Panne Nr. 1 – Treibstangenlagerschaden
Nachdem das ‘Roll-out’ der 012 100-4 am 18. Mai in Meinigen feierlich begangen und die erste öffentliche Fahrt zwei Tage später völlig störungsfrei verlaufen war, steht für den 22. Mai die Überführung der Lokomotive nach Neumünster auf dem Plan. Hierzu hatte unser Verein zwei Reisezugwagen vom DBMuseum gechartert, um interessierten Eisenbahnfreunden die Mitfahrt von Thüringen nach Schleswig-Holstein zu ermöglichen. Gegen 13.00 Uhr geht die Reise in Meiningen los und in flotter Fahrt gelangen wir über Eisenach und Bebra auf die alte ‘Nord-Süd-Strecke’.
Wenige Kilometer hinter Einbeck-Salzderhelden vernimmt das Lokpersonal (Siewke/Alsleben) ein leichtes Klopfgeräusch am Triebwerk und bestellt daraufhin per Zugfunk einen Betriebshalt in Kreiensen. Bei der eingehenden Kontrolle aller Bolzen und Lager wird festgestellt, dass das Rotguss-Buchsenlager der mittleren Treibstange, in dem der Kreuzkopfbolzen gelagert ist, weitgehend zerstört ist. Mit diesem Schaden kommt eine Weiterfahrt nicht mehr in Frage, der Zug muss geräumt und auf ein Abstellgleis umrangiert werden. Unsere Fahrgäste müssen mit dem Regelzug in Richtung Hamburg weiterreisen.
Unverzüglich beginnt das Lokpersonal, unterstützt von den im Begleiter- bzw. Speisewagen mitreisenden Kollegen Thomas Boldt und Toralf Staub, sowie dem Kollegen Holger Lemke (der eigentlich in Celle die Lok übernehmen sollte), mit der eingehenden Untersuchung des Schadens. Erkannt wird dabei u.a., dass das Bolzenschmiergefäß völlig leer ist, während die übrigen Ölgefäße einen durchschnittlichen Ölverbrauch aufweisen.
Es bleibt nun nichts anderes übrig, als die mittlere Treibstange auszubauen. Zeitgleich muss ein geeignetes Transportfahrzeug, sowie die Reparatur der Stange in Meiningen per Mobiltelefon organisiert werden. (Rein zufällig ist nur 25 Kilometer von Kreiensen entfernt die Bau- und Möbeltischlerei Thilo Siewke ansässig, aus deren Fuhrpark ein VW-Bus ausgeliehen werden kann.)
Die Demontage der Treibstange gestaltet sich äußerst schwierig. Der Sprengring hinter der Bolzenmutter sitzt bombenfest im Kreuzkopf und zum Ausholen mit dem Vorschlaghammer ist in der Enge des Mitteltriebwerkes nur sehr wenig Platz. Stundenlang wird abwechselnd bis zur lähmenden Erschöpfung der Muskelkraft geschlagen, wobei das Ein- und Aussteigen in die Nische zwischen linker Kreuzkopfwange und Lokrahmen mangels Arbeitsgrube nur mit mehreren Körperwindungen unter der Lok hindurch möglich ist. Gegen 03.00 Uhr morgens gelingt Holger Lemke endlich der ‘Goldene Schlag’, der (offensichtlich ungefettet eingesetzte) Sprengring hat sich gelöst und kann abgenommen werden. Nun lässt sich der Kreuzkopfbolzen ohne weiteres herausnehmen, er weist auf den ersten Blick keine gravierenden Schäden auf.
Um den Stangenkopf aus dem Kreuzkopf befreien zu können, muss als nächstes selbiger mit Kolben und Kolbenstange in den vorderen Totpunkt getrieben werden, und das bei schräg nach oben angeordneter Gleitbahn. Doch zum einen sitzen die Teile zu fest aneinander, zum anderen sind wir mit unseren Kräften auch am Ende. Völlig erschöpft und müde legen wir in unserem Begleiterwagen eine Schlafpause ein, die aufgrund einer inneren Unruhe (in gut 24 Stunden muss die Lok zur Eröffnung der Saison 2001 in Hamburg am Zug stehen!) nur zweieinhalb Stunden andauert.
Trotz Einsatzes aller denkbarer mechanischer Hilfsmittel schaffen wir es aber auch nach der Pause nicht, den Stangenkopf aus den Kreuzkopfwangen herauszulösen, als letzte Möglichkeit wird nun ein nicht ganz unriskantes Manöver vorbereitet. Aus mehreren Hartholzkanthölzern und Balken bauen wir unter- und oberhalb der Gleitbahn ein Fachwerk, mit dem der Kolbenhub nach vorne auf etwa 50 mm begrenzt wird. Danach wird die Steuerung auf Rückwärtsstellung gelegt und bei fest angebremster Lok ganz vorsichtig Dampf in die Zylinder gegeben. Was unsere Muskelkraft nicht (mehr) zu schaffen vermochte, erledigt ein Schieberkastendruck von ca. 2-3 bar in kaum mehr als 2 Sekunden. Schlagartig bewegt sich der mittlere Kolben samt Kreuzkopf nach vorne und wird, nachdem er die Treibstange freigegeben hat, von dem robusten Fachwerk aufgehalten. Jetzt können das hintere Stangenschloss der Treibstange geöffnet, der Keil herausgetrieben, die geteilten Lagerschalen entnommen und die Stange von der Kropfachse abgesetzt werden. Durch die Rahmenwangen und das Bremsgestänge wird das ca. 200 kg schwere Teil in den Gleisschotter gelegt und von dort aus zwischen den Rädern ins Freie gezogen.
Thomas Boldt war von all der schweren Arbeit befreit gewesen, schließlich ist er als Fahrer eingeteilt und hat aus diesem Grund einen mehrstündigen Schlaf verordnet bekommen. Gegen 07.30 starten wir zu zweit mit der Treibstange und dem Kreuzkopfbolzen auf der Ladepritsche und einem Tiefschläfer auf dem Beifahrersitz gen Meiningen. Gut drei Stunden brauchen wir für die ca. 200 Kilometer lange Strecke.
In Meiningen ist schon alles vorbereitet. Was uns jedoch ein wenig gediegen vorkommt: Der Abteilungsleiter fordert uns mit gekünzelt wirkender Freundlichkeit auf, unverzüglich in die Kantine zum Mittagessen zu gehen, viel lieber hätten wir allerdings der Reparatur beigewohnt. Nun denn, nach knapp zwei Stunden ist ein neu hergestelltes Buchsenlager in den vorderen Stangenkopf eingepresst, an dem Bolzen hat man keine Beschädigungen feststellen können. Zur Unterstützung beim Wiedereinbau der Stange schickt das Dampflokwerk zwei erfahrene Schlosser mit nach Kreiensen, wo gegen 16.30 mit den Montagearbeiten begonnen wird.
Und nun tritt der eigentliche Schaden, welcher das Dilemma ausgelöst hat, überhaupt erst zu Tage: Nachdem alles zusammengebaut ist, drücken die Meininger Lokschlosser mit der Ölspritze kräftig Öl durch die Schmierleitung und stellen dabei fest, dass das Schmiermittel unmittelbar hinter der Bolzenmutter seitlich austritt und in den Schotter tropft. Der Bolzen wird wieder herausgenommen und noch einmal genauestens besichtigt. Jetzt wird erkannt, dass die Ölbohrung mitten durch das große Splintloch gesetzt worden war. Das Öl konnte somit überhaupt gar nicht zu der Schmierstelle gelangen, sondern tropfte ungenutzt ins Gleis! Welch Wunder, dass die Lok mit diesem Fehler mehrere hundert Kilometer gelaufen ist.
Kreiensen, 23. Mai 2001, 18.00 Uhr. In 14 Stunden soll der Sonderzug nach Cuxhaven in Hamburg Hbf abfahren. Die Kollegen aus Meiningen sind mit dem Kreuzkopfbolzen im Kofferraum auf der A7 und geben ‘Gummi’. Wir nutzen die Zeit und telefonieren mit den Herren Rethorn und Sekund vom DBMuseum. Muss eine Ersatzlok bestellt werden? Erstmal noch nicht. Wir rechnen: Fahrzeit Kreiensen – Meiningen, Dauer der Reparatur, Fahrzeit zurück, gegen Mitternacht müsste das Auto aus Meiningen wieder in Kreiensen ankommen können. Vorsorglich wird ein neuer Fahrplan bei DBNetz bestellt, Holger Lemke und Günter Alsleben, die die Lok fahren sollen, treten in den ‘Vorschlaf’, der Rest der Mannschaft ölt die Achslager nach und ergänzt das Tenderwasser.
Nur um etwa eine Stunde haben wir uns verkalkuliert, gegen 01.00 Uhr nachts wird das erlösende Scheinwerferlicht auf dem Bahnhofsvorplatz sichtbar. Der Bolzen hat eine neue Ölbohrung erhalten, die fehlerhafte wurde verlötet. Zeitgleich mit dessen Einbau wird die Ölfeuerung gezündet und der Kessel auf Spitzendruck gebracht. Wieder wird Schmieröl mit der Ölspritze durchgedrückt, diesmal landet es dort, wo es hingehört. Kurze Probefahrt auf dem Abstellgleis, alles läuft ohne störende Geräusche rund. Werkzeug und Ölkannen einräumen, Notstromaggregat abklemmen, Fertigmeldung beim Fahrdienstleiter. Für den Bahnhof Freden kurzen Zwischenhalt zwecks Kontrolle des Triebwerkes bestellen.
Um 02.21 Uhr zeigt das Ausfahrsignal in Kreiensen ‘Hp 2′, ab geht die Reise. 32 Stunden hat der Zwangsaufenthalt gedauert. Nun fahren wir zügig durch das Leinetal in Richtung Norden. Lemke und Alsleben schaffen die 250 Kilometer bis Hamburg in gut vier Stunden (wegen unseres Begleiterwagens beträgt die V(max) nur 100 km/h). In Hamburg-Langenfelde steht das Ablösepersonal in Form der Kollegen Martin Altrock, Wolfgang Marten und Leo Walter parat um die 012 100-4 zu übernehmen und eine völlig erschöpfte Mannschaft in die verdiente Ruhe zu entlassen.
Der Sonderzug ‘Jan Cux’ kann an einem strahlenden Himmelfahrtstag wie geplant mit Dampf bespannt werden.
Man sieht es der Lok auf dem Foto nicht an, dass sie vor wenigen Minuten einen schweren Schaden erlitten hat. Doch das zerstörte vordere Lager der mittleren Treibstange machte die Weiterfahrt nach Hamburg am Abend des 22. Mai 2001 in Kreiensen unmöglich. (Foto: V. S.)